⊠Das sind die Mittel des Mittelalters auch im Jahr 2020, wo uns eigentlich smartere Instrumente durch die Digitalisierung zur VerfĂŒgung stehen. Hier haben wir die dringende Frage an die Regierung: Wo sind die Apps? Wo ist mindestens die Tracing-App, die wir brauchen, um Infektionsketten nachzuverfolgen? Die digitalen Defizite Deutschlands kosten uns Gesundheit, Wohlstand und Freiheit, und das ist nicht lĂ€nger hinnehmbar.
Deutscher Bundestag, Plenarsaal, 23. April 2020, 9:57 Uhr
đ https://dipbt.bundestag.de/dip21/btp/19/19156.pdf#page=19
đș https://dbtg.tv/cvid/7441882 ~08:00
aber
Does anybody think this will do something useful? … This is just something governments want to do for the hell of it. To me, it’s just techies doing techie things because they don’t know what else to do
https://www.schneier.com/blog/archives/2020/05/me_on_covad-19_.html
Hilft eine App gegen pandemische Virusausbreitung? Möglicherweise nicht im eigentlichen Sinn, aber dennoch auf mancherlei andere Art.
Technik versteckt Verantwortung
Das schöne an einer technischen Lösung ist, sie ist Aufgabe der Techniker. Damit kann man zwar als Laie (z.B. FDP Fuzzi) noch eine Meinung haben, aber man ist aus der Pflicht. Und wenn die Techniker richtige Techniker sind, finden sie aus Laiensicht die eine objektiv optimale Lösung.
Besser geht’s nicht. Alternativlos, oder?
Daà diese Lösung weder auffindbar (niemand ist allwissend und kann alle Faktoren wÀgen) noch gangbar wÀre (sie betrifft alle und muà breiter entschieden werden), wird schlicht verdrÀngt.
Sie schafft (eigene) Entspannung
Ist die Verantwortung erstmal delegiert und man selbst nicht mehr in der Pflicht, fĂ€llt auch jeglicher Druck irgendetwas zu tun weg. Schön, weil dann kann man selbst ein StĂŒck zur NormalitĂ€t zurĂŒckkehren und mit voller IntensitĂ€t PR betreiben.
“Ich bin innovativ!”
Die Forderung nach Apps bedient auĂerdem die Reaktions-Reflexe und zeigt einmal mehr, wer Teil der innovativen, technisierten Zukunft sein will und wer nicht. Es ist dies das Technikversprechen der Nachkriegsjahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Es ist die Traumwelt, die mit Penicilin und Röntgen vielversprechend begann, ĂŒber Nukleareuphorie, Asbest, Contergan, FCKW, Glyphosat, Microplastik im Fisch und PCB im EisbĂ€rfett ihren Glanz verlor und schlieĂlich zum fossilen Kohlenstoff-Erwachen fĂŒhrte.
Angesichts des globalen Konsuminfarkts die Rettung von einer Branche zu erwarten, die sich quasi seit Anbeginn auf exponentiellem Wachstum ihres Resourcenverbrauchs ausruht (Moore’s Law) ist beschĂ€mend ignorant.
It’s magic!
Da die moderne Informationstechnik und insbesondere (Smartphone-) Apps in Ihrer Wirkungsweise der breiten Masse Ă€hnlich rĂ€tselhaft sein dĂŒrften, wie chemische Prozesse den Menschen des Mittelalters, schlĂŒpft der App-Lieferant in die Rolle des Alchemisten und verspricht Blei zu Gold zu machen. An den Erfolg mag er (oder sie) selbst glauben, eintreten wird er nicht.
Wichtig ist denn auch weniger der Erfolg, als vielmehr das heiĂe BemĂŒhen — sichtbar an monströsen Budgets, riesigen Teams und aufwĂ€ndiger Maschinerie. Die besten Alchemisten sind natĂŒrlich die teuersten. Und umgekehrt. (“Nobody got fired buying IBM”)
Zu Pass kommt dabei die vermeintlich “intuitive Bedienung”, da so nicht erklĂ€rt werden muĂ, was oft genug an BanalitĂ€t und ObszönitĂ€t unter der glĂ€nzenden OberflĂ€che steckt. Wer die vermeintlich kinderleichte Bedienung nicht meistert, ist einfach zu dumm, jeder ErklĂ€rungsversuch Zeitverschwendung.
So bleiben die Wirkmechanismen esoterisch und Einblicke einer Priesterkaste vorbehalten. Es bleibt verborgen, daĂ auch die Alchemisten selbst oftmals nicht verstehen, was sie da tun und phĂ€nomenologisch Reagenzien kombinieren (try and error, “Our software dependency problem” 1), “Gedanken zur Software Explosion” 2)).
Die breite Masse der “User” verbleibt lĂ€ngst in selbstverschuldeter UnmĂŒndigkeit und unternimmt gar nicht erst den Versuch Transparenz einzufordern oder AblĂ€ufe zu verstehen, sondern begnĂŒgt sich mit reinem Konsum. Die “IntuitivitĂ€t” der Bedienung macht ein Verstehenwollen der Funktionsweise zum schrulligen Spielverderberwunsch.
Es blinkt aber auch zu schön.
Fazit
Es geht ganz postfaktisch nicht um die RealitÀt, sondern um Glauben.
So kann das Heilsversprechen unhinterfragt bestehen bleiben.
Verweise
- Russ Cox, 2019, https://research.swtch.com/deps
- Niklaus Wirth, 1994, https://dl.gi.de/handle/20.500.12116/15910 bzw. https://cr.yp.to/bib/1995/wirth.pdf
Ăber den Autor
Marcus Rohrmoser,
App Entwickler seit 2009,
Mitglied u.a. in FIfF, CCC, GI, ACM,
KurzvortrĂ€ge beim CCC, zuletzt 36c3: “Are YOU ready to sustain IT?”